Ein paar Sekunden im polnischen Himmel – und die NATO ist wach
39 Sekunden können reichen, um Patriot-Batterien in Alarmbereitschaft zu versetzen. Ende 2023 und im Frühjahr 2024 meldete Polen, dass russische Marschflugkörper bei Angriffen auf die Ukraine kurz in seinen Luftraum eindrangen und ihn ebenso schnell wieder verließen. Kein Angriff auf polnische Ziele, aber eine deutliche Botschaft: Wir sind da. Genau dieses Spiel mit der Schwelle – nicht klar Krieg, aber weit weg von Frieden – prägt die aktuelle Lage.
In dieses Muster passen immer wieder unklare Flugobjekte an der Grenze, Berichte über Aufklärungsdrohnen auf belarussischer Seite, und Störungen des Satellitensignals im Ostseeraum. Flugzeugbesatzungen über dem Osten Polens und den Nachbarstaaten melden seit Monaten GPS-Ausfälle oder falsche Positionsdaten, mutmaßlich verursacht durch elektronische Gegenmaßnahmen aus Kaliningrad und Belarus. Das ist nicht spektakulär, aber wirksam: Es verunsichert, provoziert Umwege, kostet Zeit und Geld – und testet, wie schnell Behörden reagieren.
Offen ist oft, ob eine Drohne bewusst in den NATO-Luftraum geschickt wurde oder ob sie abdriftete. Klar ist: Das Risiko wächst. An der Grenze zur Ukraine stehen Luftverteidigung, Radar und Abfangjäger im Dauerbetrieb. Die USA hatten zum Schutz des Drehkreuzes Rzeszów – von dort laufen große Teile der militärischen Hilfe in die Ukraine – schon früh Patriot-Systeme stationiert; Polen selbst baut mit "Wisła" (Patriot), "Narew" (CAMM) und "Pilica+" eine dichte Abwehr auf. Je besser die Abdeckung, desto geringer die Chancen für einen unbemerkten Überflug – aber null werden sie nicht.
Der Blick über die Grenze zeigt, wohin die Reise gehen kann. In Rumänien schlugen 2023 mehrfach Trümmer iranischer Shahed-Drohnen ein, die Russland auf ukrainische Donauspeicher zielte. Kiew, Chișinău und Bukarest dokumentierten die Schäden – ein Nebenprodukt eines Angriffs, der eigentlich der Ukraine galt. Polen will genau so etwas vermeiden und greift deshalb früh ein: Alarmstarts, Radarverfolgung, koordinierte Freigaben für Abwehrfeuer. Der Anspruch ist simpel: Jeder Meter polnischer Luftraum ist tabu.

Grauzone als Methode – und wie Polen darauf antwortet
Warum diese Nadelstiche? Weil sie funktionieren. Moskau kann Reaktionszeiten messen, Lücken in Radarkorridoren suchen und politische Nerven testen – ohne den Bündnisfall auszulösen. Eine heruntergekommene Drohne ist rechtlich etwas anderes als ein bewaffneter Angriff. Das Völkerrecht unterscheidet zwischen Luftraumverletzung, Gewaltanwendung und bewaffnetem Angriff. Russland versucht, möglichst lange unterhalb dieser Schwelle zu bleiben – und trotzdem Druck zu erzeugen.
Gleichzeitig läuft die Schattenfront am Boden. Der polnische Inlandsgeheimdienst zerschlug seit 2023 mehrere mutmaßliche Agentennetze, die Bahnbewegungen rund um Rzeszów auskundschaften und Sabotage vorbereiten sollten. Dazu kommen Cyberangriffe auf Behörden und Logistik sowie Desinformation. Das Gesamtbild passt: Draußen Drohnen, drinnen Späher. Beides zielt auf denselben Punkt – den Nachschubkorridor in die Ukraine.
Für Warschau ist die Lage ein Doppeltest: technisch und politisch. Technisch, weil jeder Alarm präzise Entscheidungen verlangt. Darf eine Drohne sofort bekämpft werden? Wo landet die Trümmerzone? Wie schützt man dicht besiedelte Gebiete? Politisch, weil jede Eskalation nach Moskau spielt: Schießt Polen zu schnell, heißt es, die NATO provoziere. Reagiert es zu langsam, wirkt es schwach. Deshalb setzt die Regierung auf transparente Lagebilder und abgestufte Reaktionsregeln, abgestimmt mit den Verbündeten.
Im Alltag sieht das so aus: NATO-Jets von Stützpunkten in Polen und den Nachbarstaaten steigen bei Warnungen auf, AWACS-Aufklärer kreisen über der Ostflanke, die Fluglotsen priorisieren Luftverteidigung. Die Bodenluftabwehr schaltet in hohe Bereitschaft, mobile Drohnenabwehr-Teams mit Störsendern sichern Umspannwerke, Häfen, Brücken und das Umfeld des Flughafens Rzeszów. Parallel verstärkt Polen unter dem Programm "Tarcza Wschód" (Ost-Schild) Zäune, Sensorik und Sperren entlang der Grenzen zu Belarus und dem Gebiet Kaliningrad.
Rechtlich ist die Linie klarer, als sie wirkt: Unbemannte Systeme, die den Luftraum verletzen und ein Risiko darstellen, dürfen abgewehrt werden. Der Spielraum liegt in der Bewertung – und genau den nutzt Russland. Ein kleines, langsam fliegendes Objekt, das kurz die Grenze streift, ist schwerer zu erfassen als ein Jet. Wenn es dann wieder verschwindet, bleibt oft nur die Radarspur. Für die Öffentlichkeit sieht das nach "nichts passiert" aus. Für Militärs sind es wertvolle Daten darüber, wie schnell die Abwehr anspringt.
Wirtschaftlich ist das Ganze längst spürbar. Airlines planen größere Sicherheitsabstände, einzelne Flüge weichen aus, Versicherer kalkulieren Risiken neu. Für die Logistiker in Südostpolen zählt jede Stunde: Je mehr Unruhe im Luftraum, desto komplizierter wird der Warenfluss Richtung Ukraine. Auch die Industrie merkt die Lage – Baufirmen sichern Baustellen gegen Drohnenabwürfe, Energiebetreiber testen Notfallpläne bei GPS-Ausfall.
Was hilft? Ein engmaschiges Netz aus Sensoren, Abwehrmitteln und klaren Abläufen. Polen beschafft zusätzliche Radare mit geringer Mindestzielgröße, vernetzt zivile und militärische Lagedaten und nutzt Software, die Muster erkennt – etwa wiederkehrende Routen oder Startfenster jenseits der Grenze. Bei der Abwehr wird kombiniert: elektronische Störung gegen kleine Aufklärer, Flugabwehrlenkflugkörper gegen schnellere Ziele, und wo möglich, sicheres Herunterholen über dünn besiedeltem Terrain. Verbündete liefern Bausteine: Deutschland und die USA mit Patriot, Großbritannien mit CAMM-Effektoren, baltische Staaten mit Erfahrung bei GPS-Spoofing.
Bleibt die Sorge vor dem großen Knall. Der eigentliche Zweck der Drohnen über Polen ist nicht, einen Krieg zu starten, sondern den Westen nervös zu halten und den Preis der Unterstützung für Kiew zu erhöhen. Je routinierter die Antwort, desto kleiner der Effekt. Und je dichter die Ostflanke geschützt ist, desto höher das Risiko für den, der testet.
- Was bisher feststeht: Kurzzeitige Luftraumverletzungen wurden offiziell gemeldet; eindeutige Angriffe auf polnische Ziele blieben aus.
- Elektronische Störungen im Ostseeraum treffen zunehmend auch den zivilen Luftverkehr.
- Polen und NATO fahren eine abgestufte Abwehr – von Radar-Tracking bis zum Abschuss, je nach Bedrohung.
- Der Schutz der Nachschubdrehscheibe Rzeszów hat höchste Priorität.